München ist die einzige Stadt in Deutschland, in der man ein Casting durchläuft, um auf der Straße musizieren zu dürfen. Das Niveau der ausgewählten Musikmachenden ist deshalb besonders hoch und nicht selten erlebt man als Publikum außergewöhnliche Auftritte unter freiem Himmel. Wir haben einen Straßenmusiker zur Prüfung und auf seinen Stationen in der Stadt begleitet.
An einem regnerischen Sommertag steht Fausto Cassara vor dem Münchner Rathaus und wartet. Er ist von Palermo in die Landeshauptstadt gereist, um Freunde zu besuchen. Und er möchte die Gelegenheit nutzen, den Einheimischen seine Kunst vorzuführen. Denn Fausto ist ausgebildeter Gitarrist, er hat am Konservatorium in Venedig studiert. Er kann Bach spielen, Jazz, Progressive Rock, Pop, er kann improvisieren und nach den präzisen Vorgaben einer Komposition seine Saiten zum Klingen bringen. An der Gitarre macht ihm also so schnell keiner was vor. Nur: Das wissen die Leute von der Stadtverwaltung noch nicht. Und die müssen vom Können der Talente, die in der Fußgängerzone singen, Geige, Hackbrett oder Gitarre spielen, überzeugt sein. Also auch von dem Faustos.
Er betritt das Büro der Stadtinformation, um sich anzumelden. Alle Neuen, die noch nie im öffentlichen Raum Münchens aufgetreten sind, müssen sich davor einer kurzen Prüfung ihrer Fähigkeiten unterziehen. So verhindert die Stadt, dass aus Musik Lärmbelästigung wird, wenn Dilettant*innen herumklampfen. So ein Casting gibt es deutschlandweit nur in München. Und man muss sagen: Das ist auch gut so. Wer zwischen Stachus und Isartor, zwischen Odeonsplatz und Sendlinger Tor sein Instrument zum Klingen bringt, spielt meist auf ausgesprochen hohem Niveau. Wenn man Zeit hat, kann man hier von einem Freiluftkonzert zum nächsten wandern. Von Klassik über Pop zu Jazz und Weltmusik.
„Das macht es auf der Straße aus. Dieser direkte Kontakt und Leute, die unser Spiel wertschätzen, die sich Zeit nehmen.“
Bald wird Fausto mit seiner ersten Vorführung beginnen. Aber zuerst führt ihn eine nette Frau von der Stadtinfo in den leeren Innenhof des Rathauses. „Ich möchte nur kurz sehen, ob er auch was kann“, sagt sie. Fausto stellt sich in eine Ecke und legt los. Er improvisiert für mehrere Minuten, es ist komplexe Gitarrenkunst, die man nicht so oft hört. Die Qualitätsprüferin der Stadt gibt schnell ihr Plazet. Danach erhält Fausto eine Genehmigung für den nächsten Tag.
Alle Musikschaffenden dürfen zwischen Montag und Samstag an zwei Tagen in der Innenstadt auftreten, und wenn sie Glück haben und schnell sind auch am Sonntag. Stündlich müssen sie ihren Standort wechseln. Und wenn man dann als Publikum vor ihnen steht, fragt man sich, vor wie vielen Menschen sie wohl schon gespielt haben, wo sie schon überall waren und wie viel Mut es braucht, sich zu trauen, die Stimme und den Klang des Instrumentes in das Gewusel der Innenstädte zu mischen. Wie groß ist die Anspannung vor dem ersten Akkord?
„Ein bisschen nervös bin ich schon immer, bevor es losgeht. Ich weiß ja nicht, wie die Leute reagieren werden und ob sie überhaupt reagieren oder nur vorbeilaufen“, sagt Fausto, der vor seiner ersten Darbietung auch ein wenig enttäuscht ist. „Sie erlauben nicht, mit einem Verstärker zu spielen, was es für mich schwierig macht. Die Leute werden mich kaum hören.“ Das kennt er aus Palermo, Glasgow, Venedig oder London anders.
Dort hatte er auch schon Gigs auf der Straße, immer elektrisch unterstützt. „Es wäre ja nicht laut, würde nicht stören, aber klassische Stücke gehen so eigentlich kaum.“ Er probiert es trotzdem. Unter dem Gewölbe des Alten Rathauses am Marienplatz ist der Klang sehr gut, aber tatsächlich kann man das Stück von Bach, das Fausto anstimmt, eher nur erahnen. In dieser Stunde haben seinem Spiel dennoch einige Leute gelauscht und ein bisschen Geld dagelassen.
„Ein bisschen nervös bin ich schon immer, bevor es losgeht. Ich weiß ja nicht, wie die Leute reagieren werden und ob sie überhaupt reagieren oder nur vorbeilaufen.“
Als nächste Station wählt er einen Ort außerhalb der Innenstadt. Wieder ein Gewölbe, weil dessen Hall den Klang der Saiten am besten verstärkt und weiterträgt. Die Zahl der Passanten ist hier geringer als am wuseligen Marienplatz, dafür hören sie aufmerksamer zu. Manche lassen sich auf den Bänken in der Nähe nieder, schließen die Augen und lassen sich von Faustos meist gezupften Stücken wegtragen. Er ist hochkonzentriert, tief in sein Spiel versunken. Auf Applaus reagiert er mit einem schüchternen Grinsen. „Ein toller Ort“, sagt Fausto zwischendurch, „super Sound hier.“
Dann reicht es Fausto für heute. „Jetzt wäre ein Bier recht!“ Er geht zum Stehausschank des Bratwurst Glöckl am Dom. Das Helle dort schmeckt ihm ganz ausgezeichnet. Er unterhält sich mit Freunden, die dazukommen, über den Tag, erzählt von der Verstärkerproblematik, schwärmt von der Schönheit Münchens und bestellt noch ein zweites Bier.
„Ein toller Ort“, sagt Fausto zwischendurch, „super Sound hier.“
Ein Bekannter sagt ihm, dass er außerhalb der Innenstadt durchaus einen Verstärker verwenden kann; solange sich Anwohnende nicht gestört fühlen, ist das Spiel geduldet. „Gut zu wissen!“, sagt Fausto und nimmt am nächsten Tag seinen Minilautsprecher mit.
Nach einer kleinen Odyssee an der Isar entlang findet Fausto den perfekten Spot. Unter der Maximiliansbrücke, über die der Verkehr hinauf zum Maximilianeum donnert. Fausto stöpselt die Gitarre an. Auf geht's! Sein Sound wird vom gewaltigen Bogen der Brücke über den Fluss hinausgetragen. Über den Mauersteg, der so wunderbar am Wasser entlang verläuft, kommen Leute, bleiben bei Fausto stehen und hören andächtig zu.
Es bilden sich immer wieder kleine Trauben von Menschen. Fausto zupft die Saiten, die Töne bilden sich, aufbauende Kaskaden des Wohlklangs, die die Menschen unter der Brücke tief berühren. Man kann es in ihren Gesichtern lesen. Sie sind entspannt, ergriffen, von entrücktem Lächeln erleuchtet. Manche verharren für sehr lange Zeit, sie erhalten ja auch ein Privatkonzert von einem sehr guten Gitarristen. Wie oft kommt das schon vor? Dann wird es dunkel. Fausto packt zusammen. Noch einmal Applaus.
Fausto zupft die Saiten, die Töne bilden sich, aufbauende Kaskaden des Wohlklangs, die die Menschen unter der Brücke tief berühren.
„Das macht es auf der Straße aus. Dieser direkte Kontakt und Leute, die unser Spiel wertschätzen, die sich Zeit nehmen“, sagt er. Und es stimmt. Wie oft hasten wir an den Violinist*innen und Harmonikaspieler*innen, den Gitarrist*innen und Cellist*innen in der Stadt vorbei? Es lohnt sich innezuhalten. Viele von ihnen sind große Künstler*innen, die uns gratis ein Konzert schenken. Fausto geht den Mauersteg hinunter, Richtung Muffathalle. „Das war super unter der Brücke!“ Er ist zufrieden, er wird wiederkommen, irgendwann, und einige Menschen in München mit seinem Spiel glücklich machen.